gELASSEN, gehen-lassen, zu-lassen, LOS-LASSEN
Wenn man in diesen Tagen einen Herbstspaziergang macht, kann man feststellen, dass die Natur sich schon auf den Neuanfang vorbereitet. Die letzten goldenen, bunten Herbstblätter hängen zwar noch an den Bäumen. Doch bald beginnt ihre kurze Reise, vom Baum zum Boden. Dem Baum scheint dieses jährliche Loslassen von dem was ihn ausgemacht hat, was ihn geschmückt hat, nichts auszumachen. Er steht da und lässt geschehen. Wo vor einigen Monaten sich noch Vögel ein Nest bauen konnten, wo noch sattes Grün, Schutz und Geborgenheit war, sind jetzt nur kahle Ästchen zu sehen. Doch bei genauem Betrachten eben auch Knospen, die vom neuen Leben künden. Ich wünsche mir, ich könnte von diesem Baum lernen. Er hält an nichts fest, er gibt her, um einen neuen Lebenszyklus Platz zu machen. Wie sehr hängen wir Menschen doch an Materiellem, an Sicherheit, an unseren Vorstellungen, Wünschen, an anderen Menschen, und selbst unsere Enttäuschungen und Verletzungen loszulassen, fällt uns schwer. Lernen vom Baum. Da kommt mir ein Vers vom Propheten Jeremia in den Sinn: "Gesegnet der Mensch, der auf den Herrn vertraut und dessen Hoffnung der Herr ist. Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und zum Bach seine Wurzeln ausstreckt: er hat nichts zu fürchten, wenn Hitze kommt...…, auch in einem trockenen Jahr ist er ohne Sorge..." (Jer 17,7-8). Da scheinen mir mehrere Geheimnisse drin versteckt zu sein: Nichts fürchten und ohne Sorge zu sein, scheint das Rezept zu sein, wie man gelassen loslassen und gehen lassen kann. Aber wie gelingt es, nicht ständig in Befürchtungen und Sorgen zu sein? Die Antwort liegt im ersten Teil: "...der auf den Herrn vertraut und dessen Hoffnung der Herr ist." Auf Vertrauen und Hoffnung kommt es also an. Wir Christen glauben an einen Gott, zu dem wir eine persönliche Beziehung durch Jesus Christus haben können, der uns liebt, der um unser Innerstes weiß, der für uns eintritt und der allmächtig ist. Deswegen können wir gelassen los-lassen. Unsere Wünsche, unsere Gebrechlichkeit, unsere Vorstellungen, ja selbst unsere Sterblichkeit wissen wir getragen und gehalten in Gott. Wer Gott vertrauen kann, der kann gelassen sein Leben genießen, der kann gelassen bleiben, wenn er nicht Recht bekommt, wenn er Verluste hinnehmen muss, wenn manches Blatt von Baum fällt, weiß er doch, dass "sein Erlöser lebt" (Hiob 19,25). Reife Menschen klammern nicht, besitzen nicht, wissen sie doch, dass alles nur eine Leihgabe ist: jeder Freund, jedes Talent, jeder Besitz, die Gesundheit...
Reife Menschen schenken Freiheit und leben in Freiheit. Sie lassen geschehen, sie lassen gehen. Sie lassen den anderen sein, geben Freiheit zum Atmen, zum Denken, zum Leben. Bei reifen Menschen blühen wir auf und bringen unsere besten Früchte hervor. Reife Menschen haben gelernt, ins Ungewisse hinein, in den Winter hinein loszulassen und Gott "machen zu lassen", haben gelernt zu vertrauen, dass das neue Leben sich bereits ankündigt, auch wenn es erst einmal nach Abschied und Verlust aussieht. Learning from Nature. Lernen vom Baum. Das wünsch ich mir und dir. Stark wie ein Baum, möchte ich sein: stark im Loslassen, Vertrauen und Zulassen, stark im Stehenbleiben, Aushalten und Weitermachen, stark im Leben und bereit zu geben.
Vielleicht flüstert beim nächsten Spaziergang dir der Herbstwind zu, dass das auch ein Lebensgeheimnis für dich wäre...…...